Urteil zu Dermatologie-App könnte massive Auswirkungen auf Telemedizin- und DiGA-Markt haben

Ein Rechtsstreit zwischen den beiden Wettbewerbern Onlinedoctor und Dermanostic könnte grund­legende Auswirkungen auf den Telemedizinmarkt haben. Der Spitzenverband Digitale Gesundheitsversorgung wirft dem Gericht vor, den Fall nicht korrekt geprüft zu haben.

Das Hanseatische Oberlandesgericht (OLG) in Ham­burg hatte entschieden, dass auch asynchrone telemedi­zini­sche Dienste als Medizinprodukte der Risikoklasse IIa zertifiziert sein müssen, wenn sie zum Zweck der ärztli­chen Diagnosestellung keine eigenen Daten erhe­ben, sondern Patientendaten strukturiert übermitteln.

Ausgegangen war der Rechtsstreit von Onlinedoctor. Das Unternehmen war gerichtlich gegen seinen Mitbe­werber vorgegangen, dem es vorwarf, für die von ihm angebotenen teledermatologischen Dienste nicht aus­reichend zertifiziert zu sein.

Beide Unternehmen hatten sich parallel auf eine Ausschreibung der Techniker Krankenkasse (TK) beworben. 2020 hatte Onlinedoctor dafür den Zuschlag erhalten und konnte seitdem den TK-Versicherten einen soge­nannten digitalen Haut-Check anbieten.

Onlinedoctor selbst hat ebenfalls noch keine Zertifizierung als Medizinprodukt der Risikoklasse IIa nach der EU-Medizinprodukteverordnung (MDR). Allerdings hat das Unternehmen sein Produkt nach eigenen Angaben bereits im Februar 2021 neu auf den Markt gebracht, als die Vorgängerregelung der heute gültigen MDR noch in Kraft gewesen ist, wonach Softwareprodukte wie asynchrone Hautchecks als Medizinprodukt der Klasse I einzustufen waren.

Für Produkte, die bereits vor Inkrafttreten der MDR auf dem Markt waren, gelten Übergangsregelungen, unter die auch Onlinedoctor fällt. Für Dermanostic gelte das nicht, argumentierte das Unternehmen. Die Struktur des Angebots mache deshalb eine Zertifizierung als Medizinprodukt der Klasse IIa notwendig, weswegen Dermanostic sein Angebot vom Markt nehmen müsse.

Einen dahingehenden Antrag auf einstweilige Verfügung hatte das Landgericht Hamburg (LG) jedoch im ver­gangenen August zurückgewiesen. Nach Auffassung der Kammer für Handelssachen setze die Medizinpro­dukte­verordnung nämlich voraus, dass die Software die für die ärztliche Entscheidung erforderlichen Infor­mationen selbst hervorbringe.

Eine Anwendung, die beispielsweise Blutdruck- oder andere Vitaldaten erhebt und einer Ärztin oder einem Arzt übermittelt, würde demnach unter die Risikoklasse IIa fallen. Bei Dermanostic – wie auch bei Online­doctor – laden Patienten jedoch selbst geschossene Fotos von Hautläsionen hoch und füllen dann ein For­mular aus. Beides wird an Dermatologen übermittelt, die auf dieser Grundlage Diagnosen stellen und gege­benenfalls Privatrezepte ausstellen.

Gegen die Entscheidung des LG hatte Onlinedoctor Beschwerde eingelegt und damit eine Abänderung er­reicht, wonach es Dermanostic untersagt wurde, seine Software ohne eine Zertifizierung nach Risikoklasse IIa, IIb oder III weiter zu vertreiben. Dagegen wiederum legte Dermanostic Widerspruch ein.

Dem Unternehmen ging es dabei letztlich um die Auslegung des Wortes „liefern“: „Software, die dazu be­stimmt ist, Informationen zu liefern, die zu Entscheidungen für diagnostische oder therapeutische Zwecke herangezogen werden, gehört zur Klasse IIa“, heißt es in der MDR. Der Begriff sei mehrdeutig, argumentierte Dermanostic, weswegen es maßgeblich auf den Zweck der Verordnung und den Willen des Verordnungsgebers ankomme.

Demnach könne bei einer reinen Datenübermittlungs- und Kommunikationslösung kein irgendwie geartetes Patientenrisiko entstehen, das es durch eine höhere Klassifizierung abzumildern gelte. Vielmehr sei zumindest ein irgendwie gearteter eigener diagnoserelevanter Beitrag der Software erforderlich, um sie in Klasse IIa einzuordnen.

Bei den Anamnesefragebögen in der App sei das nicht der Fall, denn diese seien ausschließlich durch fachlich geschulte Menschen entwickelt worden, sodass die App über Art und Umfang der gestellten Fragen keinerlei eigenständige Entscheidungen treffe, sondern lediglich die von menschlichen Ärzten für das jeweilige konkrete Krankheitsbild vorgegebenen Fragen anzeige.

Mit dieser Argumentation war Dermanostic erfolgreich: Anfang des Jahres hob das LG die einstweilige Verfü­gung auf. Nun ging Onlinedoctor in Berufung und verwies dabei darauf, dass die Software aufgrund einer vor­gegebenen Programmierung und auf Basis der vorausgegangenen Antworten entscheide, welche weiteren Fragen einem Patienten gestellt würden.

Die App nehme damit Einfluss auf den Anamneseinhalt und die Diagnose einer Erkrankung, die der Patient im ersten Schritt selbst einordnen müsse. Dies geschehe also nicht auf Grundlage einer ärztlichen Einzelfallent­scheidung – die Software greife somit in den Diagnoseprozess ein und beeinflusse ihn.

Außerdem setze die App eine eigene Beurteilung des Krankheitsbildes durch den Patienten voraus, der initial die mögliche Erkrankung angeben müsse. So würden dem Patienten Antwortmöglichkeiten beziehungsweise Diagnosen wie Akne, Rosazea, Schuppenflechte oder Muttermal zur Auswahl gestellt.

Darauf aufbauend erhalte dieser die Fragen, die nach der App für die ausgewählte Krankheit relevant seien. Das OLG folgte dieser Argumentation weitestgehend: Die App liefere den Ärzten das Ergebnis einer struktu­rierten Erhebung medizinischer Daten.

„Wenn die Antragsgegnerin in diesem Zusammenhang einwendet, dass schließlich ein Expertenteam sich die Fragestellungen überlegt habe, sodass kein Unterschied zu dem Dermatologen vor Ort bestehe, ist dem ent­ge­genzuhalten, dass eine Software immer ein von Menschen hergestelltes Programm ist, die dieses hoffent­lich auf der Grundlage einer ausreichenden Expertise programmiert haben, sodass die Tatsache, dass ein ‚Expertenteam von Hautärzten‘ die Fragen entwickelt beziehungsweise die Programmierung vorgegeben hat, kein taugliches Abgrenzungskriterium sein kann“, heißt es in dem Urteil, das dem Deutschen Ärzteblatt vorliegt.

Außerdem spreche der vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) kreierte Auslegungsgrundsatz „effet utile“ gegen die Interpretation des Wortes „liefern“ durch Dermanostic: Demnach kommt unionsrechtlichen Vorschriften bei Auslegungszweifeln stets die größtmögliche Wirkung zu. Ist nicht klar, ob „liefern“ nur die eigene Erhe­bung von Daten umfasst oder aber auch die reine Übermittlung, gilt demnach zweiteres.

Onlinedoctor sieht darin „ein für die Telemedizin in Deutschland wegweisendes Urteil“, wie das Unternehmen mitteilt. Es handele sich um eine zentrale Entscheidung für die Gesundheitsbranche, da die meisten asynchro­nen Telemedizinanbieter in Deutschland keine Zertifizierung durchlaufen hätten und die Kosten sowie Res­sourcenaufwände zur Einstufung als Medizinprodukt Klasse IIa in Fachkreisen als sehr hoch bewertet würden.

„Auch wenn es sich beim OLG-Urteil um eine Einzelfallentscheidung handelt, ist diese richtungsweisend für alle Anbieter von vergleichbaren Softwareprodukten“, erklärte Theresa Sieverding, Chief Legal Officer bei Onlinedoctor. Das OLG habe erstmals allgemeine Leitsätze zur Auslegung der Klassifizierungsregel der MDR für Softwareprodukte aufgestellt. „Es ist stark davon auszugehen, dass andere Gerichte sich an den Leitsätzen dieser Entscheidung orientieren, sollten sie ähnliche Produkte beurteilen müssen.“

Auch Geschäftsführer Tobias Wolf begrüßte die Entscheidung ausdrücklich als wichtiges Signal. „Das Urteil gibt jetzt Klarheit und eine eindeutige Vorgabe für die asynchrone Teledermatologie“, sagte er. „Uns als Team bestätigt das Urteil darin, den hohen Zeitaufwand und die Kosten in die Zertifizierung als Medizinprodukt der Risikoklasse IIa zu investieren.“

Der Darstellung von Onlinedoctor, dass der Wettbewerber sein Angebot nun Markt nehmen müsse, wider­spricht Dermanostic hingegen. „Wir sind weiter online verfügbar“, betonte Geschäftsführerin Alice Martin auf Anfrage. Vielmehr habe Dermanostic die vorherige App vom Markt nehmen und durch eine neue App ersetzen müssen, in der Anpassungen an der Zweckbestimmung sowie am Fragebogen vorgenommen worden seien, damit die Daten aus den Antworten Patienten nicht mehr vorstrukturiert bei den Ärzten ankommen würden.

„Wir müssen jetzt beispielsweise Kleinkinder fragen, ob sie ungeschützten Geschlechtsverkehr hatten. Das ist absurd, aber laut Urteil des OLG notwendig“, sagte Martin. In der Medizin gebe es eine Vielzahl genutzter Papierfragebögen, deren Ergebnis dann in die ärztliche Diagnose einfließt. „Keiner dieser Fragebögen ist ein Medizinprodukt der Klasse IIa. Warum nun ein App-Fragebogen ein Medizinprodukt sein soll, ist absolut unverständlich.“

Auch sie halte das Urteil für potenziell grundlegend und befürchte, dass es enorme Auswirkungen auf den gesamten Markt für Telemedizin, aber auch Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) haben könnte. Denn nach der Rechtsauffassung des Gerichts würde jede Anwendung und jeder Fragebogen, der strukturiert Daten von Patienten an Ärzte übermittelt, in die Klasse IIa fallen.

„Das hätte massive Folgen für viele Anbieter, die Zertifizierungen beantragen müssten, und würde erneut die Digitalisierung des Gesundheitswesens unnötig ausbremsen“, kritisierte Martin. „Welchen Mehrwehrt oder Sicherheitsgewinn die Patienten davon haben, ist nicht erkennbar, da die Anforderungen an das Qualitäts­managementsystem und die Sicherheits- und Leistungsanforderungen bei Risikoklasse I und IIa identisch sind.“

Damit ist das Thema auch für den Spitzenverband Digitale Gesundheitsversorgung, der das Gros der DiGA-Anbieter vertritt, höchst relevant. Vorstandsmitglied und Justiziar Julian Braun übt Kritik am OLG: Das Gericht habe die zentrale Frage, ob es sich bei der jeweiligen Software überhaupt um ein Medizinprodukt im Sinne der MDR handelt, gar nicht geprüft.

Hätte es diese Prüfung vorgenommen und die regulatorischen Guidelines zugrunde gelegt, hätte es Braun zufolge zu dem Schluss kommen müssen, dass es sich nicht um ein Medizinprodukt handele. Dann wäre die Frage der Risikoklassifizierung obsolet gewesen. „Weil das OLG Hamburg diesen Prüfungsschritt nicht durch­geführt hat, ist es am Schluss – denklogisch – auch zu einem falschen Ergebnis gekommen“, erklärte er auf Anfrage.

Verbandschef Paul Hadrossek wiederum widerspricht der Einschätzung von Onlinedoctor-Geschäftsführer To­bias Wolf: Das Urteil habe eben keine eindeutige Klarheit geschaffen, sondern zeige vielmehr die erheblichen Unterschiede in den Bewertungen durch verschiedene Instanzen und Institutionen, erklärte Hadrossek.

„Es ist dringend notwendig zukunftsfähige Regelungen zu schaffen, die eine digitale Arbeit von Ärzten, eine zeitgemäße effektive Patientenversorgung und zukunftsfähige Grundlagen für Innovationen ermöglichen.“

 

Quelle: Ärzteblatt